Tag der Philosophie am 19.11.2010
Aula Magna der Universität Trapani
Thema des Symposions:
Wissenschaft und Theologie
Beitrag Häring:
Vom Kosmos der Dinge zum Sinn der Welt
These 1:
Die Postmoderne hat zu einem neuen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theologie geführt.
Die Situation der (christlichen) Theologie hat sich seit dem 2. Vatikanischen Konzil radikal geändert. Sie entwickelte sich von einer methodisch streng geregelten zu einer methodisch offenen und vielfältigen wissenschaftlichen Unternehmung. Seitdem können wir (katholische und evangelische) Theologie methodisch und inhaltlich nicht mehr eindeutig definieren.
Beide Theologien haben sich in verschiedene historische, hermeneutische und handlungswissenschaftliche Teildisziplinen aufgeteilt, deren innerer Zusammenhang gilt nicht mehr als Kriterium für deren Gültigkeit. Die Regulierung durch Dogmen, Bekenntnisse und/oder kirchliches Lehramt hat ihre normative Kraft verloren.
Ich weiß wohl: Viele Theologinnen und Theologen verstehen ihr Fach nach wie vor gemäß den klassischen Regeln einer konventionellen Wissenschaft. Sie überprüfen und beurteilen Welt, Mensch und Geschichte aus der Perspektive ihres (christlichen) Glaubens, insbesondere aus der Perspektive eines Gottes, der sich uns mitteilt. Unter dieser Prämisse beziehen sie die Heiligen Schriften, die kirchliche Tradition und die Philosophie in ihr Denken mit ein. Insbesondere die römische Kirchenleitung besteht noch immer darauf, dass den zentralen Aussagen des Glaubens eine unbedingte Leitfunktion zukommt.
Aber auch diese Theologinnen und Theologen haben inzwischen die Beweislast für ihre traditionellen Verfahren zu tragen, die vom „Depositum des Glaubens“ reguliert sind. Dadurch geraten sie oft in eine defensive, bisweilen antimodernistische oder wissenschaftsfeindliche Situation. Das schadet ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer Bereitschaft, mit anderen Wissenschaften einen wirklichen Dialog zu führen.
These 2:
In einer säkularisierten Epoche ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theologie asymmetrisch geworden.
Genau besehen ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theologie asymmetrisch geworden, denn die Theologie kommuniziert in anderer Weise mit Wissenschaften und Öffentlichkeit als andere Wissenschaften dies tun.
Natürlich hat auch die Theologie nach Möglichkeit alles, was sie tut, methodisch zu verantworten, inhaltlich aufzuweisen und wissenschaftlich zu belegen. Aber in einer säkularisierten Epoche kann die Theologie ihre Kernaussagen nicht mehr „beweisen“, denn in Sachen Gottesglauben kann sie kein allgemeines Einverständnis mehr voraussetzen oder erhoffen, sei es implizit oder intuitiv oder philosophisch vermittelt. Sie kann ihre Sache nur noch in radikaler Subjektivität verantworten.
In der Regel hält sie an einer prinzipiellen These fest, die lautet: Es ist sinnvoll und für das Verständnis von Mensch und Welt fruchtbar, die Wirklichkeit unter der Voraussetzung einer letzten Instanz auszulegen, die alles trägt. Zusammen mit den Religionen hält sie also am qualitativen Unterschied zwischen Immanenz und Transzendenz fest, der in der Tradition des westlichen Denkens zu Aussagen über „Gott“ führt.
Aussagen über Gott führen deshalb zu einer radikalen Subjektivität, weil „Gott“ (in Anführungszeichen!) nur in einer je persönlichen Entscheidung bejaht werden kann. Es ist eine Subjektivität, die von allgemein gültigen Aussagen nicht voll zu erreichen ist. Was gemäß wissenschaftlichen Regeln allgemeingültig ist, kann nie den Grad unbedingter Subjektivität erreichen.
(Tertullian sagt „credo quia absurdum“, die Mystik spricht vom Unaussprechlichen, S. Kierkegaard vom Sprung, D. F. Schleiermacher vom „Gefühl unbedingter Abhängigkeit“, H. Küng von einer „inneren Rationalität“, in postmoderner Diktion geht es um den Glauben als einer unabhängigen Form der Erfassung von Wirklichkeit.)
Es ist das Verdienst einer säkularen Epoche, dass sie die Theologie zu dieser Positionsbestimmung gezwungen hat.
These 3:
Die Theologie produziert keine konkurrierenden Erklärungen von Kosmos und Welt, vielmehr thematisiert sie die Grenzen von deren wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie tut dies im Blick auf radikale Subjektivität.
In der Moderne erhob die Theologie den Anspruch, sie könne den Kosmos, die Welt und den Menschen, den Ursprung und das Ziel der Wirklichkeit besser erklären als die anderen Wissenschaften. Dieser Anspruch ist aufzugeben. Die religiösen Traditionen bieten dazu keine Informationen, sondern Imaginationen, also performative Symbolsysteme, deren Deutung immer offen ist.
Dagegen hat die Theologie zu fragen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen einer allgemeingültigen und einer radikal subjektiven Erkenntnis? Wie kann eine objektive Erkenntnis zu einer Aussage werden, die für mich verbindlich ist? Unter welchen Bedingungen kann ich mich subjektiv mit einer Weltdeutung vorbehaltlos identifizieren?
Lange Zeit hat die Theologie das säkulare Wissen der Menschen einfach verdoppelt. Karl Barth behauptete noch, die Theologie sei notwendig, weil die Wissenschaften sich irren. So bestätigte man vorwissenschaftliches und wissenschaftliches Wissen oder man leugnete es. Man lebte von der Konkurrenz. Der (christliche) Glaube galt als eine besondere Quelle des Wissens, mit dem man das weltliche Wissen kontrollieren konnte.
Die zeitgenössische Theologie kann und soll diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Denn schon lange haben sich die modernen Wissenschaften zu autonomen und vertrauenswürdigen Wissenssystemen entwickelt. Es gibt keinen Grund, ihnen aus Gründen des Glaubens oder eines Offenbarungswissens zu misstrauen.
Mit den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis meine ich also nicht die faktischen Grenzen einer jeden Wissenschaft, die ständig erweitert werden. Ich meine
(a) die Grenzen zwischen allgemein gültigen und subjektiv verbindlichen Aussagen [wie schon besprochen]. Ich meine aber auch
(b) den Umgang mit den qualitativen Grenzen, die sich aus dem Unterschied zwischen den empirisch deskriptiven Wissenschaften einerseits und den deutenden Wissenschaften andererseits ergeben. Ich meine also den Umgang mit allen Fragen, die mit der Sinndeutung, der Wertung und der Interpretation von Dingen, Aussagen und Erkenntnissen zu tun haben.
Natürlich hat die Theologie diese Fragestellung mit hermeneutischen Wissenschaften gemeinsam. Im Sinn ihrer radikalen Subjektivität unternimmt Theologie im strengen Sinn immer den Versuch, die Wirklichkeit (im schon genannten Sinn) von einer bestimmten Position her und auf eine bestimmte deutende Position hin zu interpretieren. Diese Position wird in der Regel „Glaube“ genannt.
„Glaube“ beschreibt also eine für alle Wissenschaften (auch für die Philosophie) höchst schwierige und komplexe Position. Zwar hat sich die Position des Glaubens im Rahmen rationaler Rahmenbedingungen zu bewegen; sie muss kommunikabel, diskursfähig sein und Absurditäten vermeiden. Aber sie geht über diese Bedingungen hinaus, denn sie bietet eine Weltinterpretation an, die – wie schon gesagt - einen konstitutiven Abstand aller Philosophie ignoriert. Es ist der Abstand zwischen Allgemeinheit und (radikaler) Subjektivität, gleich ob diese individuell oder kollektiv gedacht wird. Solche Subjektivität ist immer konkret, d.h. einer persönlichen Verantwortlichkeit verpflichtet. Angesichts der Komplexität unserer Wirklichkeit ist solche Eindeutigkeit nie zu beweisen oder zu erzwingen.
Natürlich kann eine solche radikal subjektive Position fundamentalistisch verengt werden; das kann ich nie ausschließen. Gerade hier setzt aber die Aufgabe einer dialogfähigen Theologie ein. Sie hat dafür zu sorgen, dass Glaubensaussagen den Rahmen der Rationalität nicht verlassen. Glaubensformeln und Glaubensbekenntnisse haben oft den Status einer vorsprachlichen Intuition oder Imagination. Sie sind einzubringen in den Rahmen genereller Diskurse, in die Dialektik von subjektiver Antizipation und konkret verstehbarer Interpretation. Die Theologie darf diese ihr vorgegebene Spannung nicht aufgeben. Sie muss diese Spannung durchhalten und vorschnellen Auflösungen widerstehen. Nur so kann sie der Sprache des „Ich“ bzw. des „Wir“, d.h. der Authentizität, Genüge tun.
These 4:
Eine authentische Theologie bespricht Erfahrungen zwischen Vertrauen und Verzweiflung und reflektiert unsere Verantwortung für eine bedrohte Zukunft.
Die Sprache radikaler und zugleich verbindlicher Subjektivität kann sich auf keine allgemein akzeptierten, wissenschaftlich geregelten Aussagen verlassen. Daraus folgt: Wer sich dieser Subjektivität stellt, kann seine Aussagen nur in Erfahrungen suchen, die sich zwischen Vertrauen und Verzweiflung bewegen. Solche Aussagen können nie im strengen Sinn des Wortes beweisbar sein, weil sie immer ein Gelingen oder ein Scheitern antizipieren. Ihre Qualität erweist sich an der Frage, wie überzeugend sie sich auf die konkrete Erfahrung von Mensch und Menschheit beziehen lassen. Die Theologie stellt also auch den Wissenschaften die Frage, zu welchem Vertrauen und zu welcher Verzweiflung ihre Ergebnisse Anlass geben und in welchem Sinne sie die Verantwortung für eine bedrohte Zukunft ermöglichen
These 5:
Eine authentische Theologie arbeitet hermeneutisch. Sie arbeitet also indirekt und ist auf ganzheitliche Aussagen bezogen.
Die Korrespondenz zwischen authentischer Erfahrung und Wirklichkeit lässt sich mit hermeneutischen Verfahren erarbeiten. Hermeneutische Verfahren erschließen die Wirklichkeit von Mensch und Welt als Texte, die sich durch Deutung erschließen lassen. Die Heiligen Schriften der Religionen sind ihrerseits textgewordene Erfahrungen, die von den Anhängern eines Glaubens als vertrauenswürdige „Vorurteile“ in theologische Verfahren einbezogen werden. Solche Heilige Schriften haben in der Interpretation von Mensch und Welt keine normative, sondern eine erhellende Funktion. Sie sind keine Feinde des Widerspruchs, sondern Freunde der Erwiderung. Diese Schriften haben nach aller Erfahrung also eine erkenntnisfördernde Funktion, die kritisch nachzuvollziehen und gegebenenfalls in ganzheitliche Vollzüge des Verstehens einzuordnen sind.
So ermöglicht Theologie als hermeneutische Wissenschaft Prozesse nicht des Nachweises oder des Beweises, sondern der Deutung. Sie lebt von indirekten Verweisprozessen und legt Verbindungslinien, die gegenüber den offenliegenden Tatsachen immer einen Mehrwert beinhalten. Dieser Mehrwert ergibt sich aus der transversalen Qualität menschlichen Verstehens.
Diese Verweisprozesse sind immer ganzheitlich, sofern sie die Wirklichkeit und menschliche Existenz (als Individuum oder als Gemeinschaft) im Medium von Texten streng aufeinander beziehen.
These 6:
Theologie hat ihre aktuelle Bedeutung als Brückenwissenschaft zwischen Religionssystemen und säkularer Rationalität.
Theologie ist immer eine Brückenwissenschaft im mehrfachen Sinn des Wortes.
a) Sie ist – im beschriebenen Sinn - eine Wissenschaft im Medium der Sprache, also der ikonischen Zeichen, die immer transzendierende und transversale Welten in sich tragen.
b) Sie ist es auch im Sinne einer säkularen Epoche.
Theologie reproduziert nicht einfach die religiöse Symbolwelt, in der sie ursprünglich entstanden und zu Hause ist. Das würde heute nicht einmal mehr dem innerkirchlichen Gebrauch genügen.
Theologie vermittelt vielmehr zwischen Religion/en und Gesellschaft, also einerseits zwischen einem deutenden und praktisch handelnden Teilsektor der Wirklichkeit und andererseits einer gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit, die „ihre“ Religion nicht mehr intuitiv als ihre Deutung versteht.
So baut sie Brücken zwischen religiösen Symbolwelten und säkularer Rationalität. Darin hat sie nicht nur eine instrumentale, sondern auch eine sich selbst vermittelnde Funktion. Zum Beispiel muss sie Menschen etwas von „Gott“ sagen, die das Wort „Gott“ überhaupt nicht mehr verstehen. Deshalb kann Theologie heute nur zu sich selbst kommen, wenn sie in die Möglichkeiten der Sprache selbst eingeht, sich selbst in der Sprache transformiert. Anders gesagt: Sie kommt nur zu sich und zu ihrer Symbolwelt, indem sie ihre religiös-archaische Symbolwelt in eine nicht-religiöse Sprache transferiert. In dieser Fähigkeit zum Transfer der Sprache entscheidet sich die Zukunft der Theologie überhaupt.
Möglicherweise ist diese Vermittlungsfunktion wichtig als Gegengift gegen die Auflösungsprozesse einer Gesellschaft, die sich in wachsendem Maße fragmentiert und nicht mehr alles sagen kann, was gesagt werden muss (vgl. J. Habermas).
These 7:
Angesichts der fragmentierten Diskurse in Gesellschaft und Weltgemeinschaft kann Theologie diese Brückenfunktion nur im Rahmen von unterschiedlichen Teildiskursen ausfüllen. Unter postmodernen Bedingungen ist Theologie wesentlich interdisziplinäre Theologie.
Herausforderung und Problem einer postmodernen Gesellschaft liegen in ihrer epistemischen und lebenspraktischen Pluralität. Deshalb ist eine Theologie ungenügend, die eine Brücke zur Gesellschaft an und für sich sucht, denn diese Gesellschaft gibt es nicht; es gibt sie nur in der Form von Teilgesellschaften.
Die zentrale Aufgabe der Theologie ist es deshalb nicht, ihren „eigenen“ religiösen Diskurs abzusichern. Sie hat vielmehr eine Übersetzungsarbeit in verschiedene Diskurse zu leisten. Ich nenne als Beispiele den moralischen Diskurs gesellschaftlichen Handelns, den öffentlichen Diskurs der Politik, den religionswissenschaftlichen Diskurs der Sinnsuche, die Diskurse der psychologischen und neurologischen Anthropologie, die soziologischen, den naturwissenschaftlichen, insbesondere die kosmologischen Diskurse.
Deshalb kann Theologie nur noch als interdisziplinäres Unternehmen ihre Aufgabe erfüllen. Eine solche Interdisziplinarität muss in der Abfolge von drei Stufen erfolgen:
a) In einem komparativen Schritt sichert sie gegenseitig verschiedene Sachaussagen im Blick auf jeweilige Einordnungen und mögliche Konkurrenz.
b) In einem kontrastierenden Schritt testet sie die Unterschiede im Blick auf unverträgliche und unaufgebbare Informationen und Intentionen.
c) In einem integrierenden Schritt sucht sie gemeinsame Aussagen, indem sie innerhalb einer neuen Symbolwelt eine neue Sprache sucht.
These 8:
So kann die Theologie innerhalb der Religionen auch zur Verteidigerin der modernen Naturwissenschaften und – zusammen mit der Philosophie – zur Wächterin der ethischen Herausforderungen werden, die sich aus neuen Erkenntnissen ergeben.
Eine interdisziplinär orientierte Theologie kann nicht mehr als einseitige Verteidigerin von Religion bzw. einer bestimmten Religion wirken. Ihre Aufgabe ist es, zwischen den verschiedenen Systemen zu vermitteln und in sich mehrsprachig zu werden. Entsprechend den drei Stufen ihrer Interdisziplinarität sollte sie immer von drei leitenden Eingangshypothesen ausgehen:
a) der Vertrauenswürdigkeit der „konkurrierenden“ Disziplin in all ihren Detailaussagen,
b) dem unentdeckten Mangel an ganzheitlichen Aspekte in der Summe der Aussagen,
c) der Fähigkeit der Sprache, verbindende virtuelle Welten zu schaffen.
Diese neuen, noch kaum entdeckten Aufgaben stellen die Theologie vor bislang unerhörte Aufgaben und Identitätsprobleme. Deshalb steht die Theologie nicht am Ende ihres Könnens, sondern am Beginn einer neuen Zukunft.
12.11.10 Hg.
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